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Überflügelt! – Seit 125 Jahren baut Steinway in einem Hamburger Industrieviertel Flügel von Weltklasse

Graues Licht fällt durch die Fenster. Die Wände sind hellgrün getüncht. Der Boden ist rutschig, und die Männer, die umherlaufen, haben breite Schultern und kräftige Oberarme. Sie tragen Gummistiefel, bodenlange Gummischürzen und Handschuhe bis zu den Ellenbogen. Sie könnten auch in einer Abdeckerei arbeiten. Stattdessen schichten sie Ahorn- und Mahagoniholz aufeinander. Es spritzt und stinkt, Leim tropft, und dann zählt einer der Männer ein, und bei drei wuchten alle – hau ruck! – 100 Kilo leimkleckerndes Holz in eine Biegepresse. Es ist der Anfang von etwas, das eines Tages Menschen zu Tränen rühren wird.

Das allererste Steinway-Klavier war ein Hochzeitsgeschenk

In einer Küche im Harz tüftelte 1836 ein junger Mann an einem Geschenk für seine Braut. Heinrich Steinweg, Sohn eines Försters, liebte Musik. Und er war Tischler. Doch die strenge Zunftordnung verbot ihm den Bau von Musikinstrumenten, und darum baute er das Pianoforte heimlich. Durch einen Zufall erfuhr jedoch der Herzog von Braunschweig von dem außergewöhnlichen Hochzeitsgeschenk – und orderte ein ebensolches Instrument für seinen Hof. So wurde Steinweg doch noch zum Instrumentenbauer. 1850 wanderte er dann mit Frau und Familie nach Amerika aus, nannte sich fortan Henry Steinway und gründete 1853 in New York seine eigene Firma: Steinway & Sons. Sein Ziel: To build the best piano possible.

Bis heute nur Handarbeit

150 Jahre später ist es dieser Satz, dieses schlichte und zugleich sehr amerikanische Credo, das man in dem Hamburger Steinway-Werk immer wieder hört. Von den Männern mit den Gummischürzen in der Rimbiegerei. Von ihren Kollegen, die in der Halle nebenan Stimmstock und Querblock einleimen und mit computergesteuerten Präzisionsmaschinen Dübellöcher bohren und Bodenlager für die Resonanzböden fräsen. Von den Männern mit den weißen Handschuhen, die die Saiten spannen. Von den Frauen, die so lange Hammerköpfe ausrichten, bis sie die Saiten an ihrem absolut optimalen Punkt treffen. Rund einhundert Patente meldeten Henry Steinway, sein Bruder und seine Söhne, die ebenfalls Klavierbauer wurden, einst an – und bis heute wird jeder Steinway nach genau diesen Vorlagen gefertigt. In Handarbeit, mit akribischer Präzision. „Eigentlich“, sagen die Männer mit den Gummischürzen, „hat sich in 150 Jahren nicht viel verändert.“

Wachstumspotenzial: 0,1 Millimeter

Die meisten seiner Kunden sehe er ein einziges Mal, sagt Marketingdirektor Werner Husman. Und lacht. Er lacht gern und viel. Und er hat allen Grund: Über 90 Prozent aller Künstler weltweit spielen einen Steinway. „Das ist eine beachtliche Marktposition.“ Husman lehnt sich zurück. „Wenn Sie Verkäufer einer bekannten deutschen Autofirma sind, dann rufen Sie Ihre Kunden alle fünf Jahre an, weil ein neues S-Klasse-Modell auf den Markt kommt. Unsere Kunden haben ihr Instrument nach fünf Jahren gerade eingespielt. Würden wir ihnen vorschlagen, jetzt einen neuen Flügel zu kaufen, würden sie aufschreien: ‚Wollen Sie mich umbringen? Den gebe ich nie wieder her!’“
Aber wo, Herr Husmann, ist bei diesem Erfolg Potenzial für Wachstum?
Husman nickt, als habe auf die Frage gewartet. „Wissen Sie“, sagt er und wirkt dabei zugleich amüsiert und ein wenig demütig, „im Klavierflügelbau gab es die letzten entscheidenden Innovationen in den 1930er und 1940er-Jahren. Wenn Sie nicht in die Elektronik gehen, sind neue Patente oder bahnbrechende Ideen nahezu unmöglich. Darum setzen wir statt auf neue Modellserien und regelmäßiges Up-to-date auf Produktqualität. Wir wollen eine Fertigungstoleranz von weniger als 0,1 Millimeter erreichen.“ In seinen Mundwinkeln hängt der Rest eines Lächelns, doch sein Blick ist jetzt ernst, nachdrücklich, entschieden. „Das ist unser Ziel.“ Und still schwingt wieder dieser Satz durch den Raum: To build the best piano possible.

Innovation und Expansion

1860, ein Vierteljahrhundert nachdem er in der Küche im Harz das Pianoforte für seine Braut gebaut hatte, waren Heinrich Steinwegs bzw. Henry Steinways Flügel und Klaviere so ausgefeilt, dass die Konkurrenz begann, sie zu kopieren. Die Steinways bauten unterdessen eine große Fabrik in der 52. Straße, dort, wo heute die Park Avenue entlangläuft. Sie bauten eine Arbeitersiedlung, mit eigener Kirche, Schule, Bücherei, Feuerwehr, Post. Sie bauten 1880 eine zweite Fabrik, diesmal in Deutschland, in Hamburg. Hundert Jahre später, 1972, verkaufte Henry Z. Steinway, Heinrich Steinwegs Urenkel, die Klavierfabrik an das Medienunternehmen CBS. 1996 ging es an die Börse. Die Aktie wird unter dem Kürzel LVB, Ludwig van Beethoven, gehandelt.
Ein Steinway kostet heute zwischen 20.000 und 100.000 Euro. Es gibt Finanzierungspläne und Leasingangebote, und Sonderwünsche werden gern erfüllt: Vor einer Weile kam ein Kunde mit einer rosa Schublade mit goldenen Schnitzereien – inzwischen passt sein neuer Flügel perfekt zur Möblierung des Salons. Auch die hauseigene Künstler- und Konzertabteilung ist legendär: Habe meine Hosen und meinen Anzug im New Yorker Appartement liegen lassen, kabelte der polnische Pianist Ignaz Paderewski. Meine Tochter hat außerdem zwölf Schildkröten vergessen und glaubt, sie seien in der Küchenspüle. In der Hauptsache kümmert man sich jedoch um die Instrumente: Damit ein Steinway bei 30 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit in Shenzhen so vollendet klingt wie bei Schnee, minus 10 Grad und 20 Prozent Luftfeuchtigkeit in München. Wir tragen einen großen Namen, hatte Marketingdirektor Werner Husman zum Abschluss gesagt: Aber wer sind wir denn? In Deutschland ein mittelständisches Unternehmen, in den USA ein Kleinbetrieb.


Der minimale Unterschied

Das Ahorn- und Mahagoniholz, das die Männer mit den Gummischürzen geleimt und gebogen habe, ist ein Jahr später ein Flügel. 12.000 Einzelteile, 30 verschiedene Arbeitsgänge, 100 Handwerker. Im letzten Schritt steht das Instrument nun bei dem blinden Herrn Frantz. Mit präzisen Bewegungen setzt der seinen Stimmschlüssel auf die Wirbel, Stunde um Stunde, Tag um Tag, prüft, ob ein Ton hart oder weich klingt, voll, fest, brillant, klar, offen. Zieht die Klaviatur aus dem Flügel, hebt den Hammerkopf am Ende der Taste des für seinen Geschmack etwas zu harten Gs und sticht mit der Intoniernadel ein paar Mal kurz und fest in den Filz des Hammerkopfs. „Den Unterschied hören nicht viele“, räumt er ein. „Aber dieser minimale Unterschied zeichnet eben einen Steinway aus.“
So wird auch dieser Flügel eines Tages irgendwo auf der Welt wieder Menschen zu Tränen rühren.

© Sabine Eichhorst. Alle Rechte vorbehalten.